Die ausgeprägte Mobilität gestattete es der männlichen resianischen Bevölkerung den Heimatort nicht endgültig zu verlassen, da sie ihr zugleich die Möglichkeit bot in Beziehung zu neuen Realitäten zu treten, ohne sich der Möglichkeit einer Rückkehr ins Tal zu den Feiertagen oder besonderen Anlässen zu verschließen.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich ab, dass man nicht mehr saisonal, sondern vermehrt temporär migrierte. Diese Tendenz war sicherlich auf die neue Lage vieler Scherenschleifer zurückzuführen, die über eine Unterkunft verfügten, eine Werkstätte betrieben und Unternehmen in ihrer neuen Heimat gründeten.
Die Frauen hingegen blieben vorwiegend im Tal und mussten Hausarbeit, Kindererziehung und die schwere Arbeit auf dem Acker und im Stall verrichten .
Die wichtigsten Ziele dieser Migrationsbewegung waren die stark wirtschaftlich ausgerichteten, großen Städte der Monarchie wie Graz, Sopron, Prag, Budapest … , die viele Möglichkeiten für Geschäfte boten und für die tüchtigsten die Gelegenheit zur Gründung richtiger Unternehmen in neuen blühenden Märkten darstellten. Einigen resianischen Auswanderern gelang es, dank ihrer ausgeprägten unternehmerischen Fähigkeiten, florierende Werkstätten aufzubauen und ihr Glück zu machen.
Aus dieser Zeit stammt die Geschichte der Familie Pusca, die ursprünglich aus Prato di Resia stammte und sich auf der Suche nach Arbeit in das Herz der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in das Städtchen Sopron, im heutigen Nordwest-Ungarn begab. Das nur 70 km von Wien entfernt gelegene Ödenburg – so der deutsche Namen der Stadt – war Ziel vieler Familien aus dem Resiatal.
Das florierende Handelszentrum zog Handwerker und Händler aus allen Teilen der Monarchie an.
Der Stammvater dieser Scherenschleiferfamilie war Antonio Pusca , der am 13. März 1845 in Resia geboren wurde. Seine Frau Anna Bobaz, in Lischiazze/Liščaca gebürtig, kam am 17. Jänner 1849 zur Welt. Die Eheleute Antonio Pusca und Anna Bobaz hatten vier Kinder: Giuditta, Adelaide, Maria und Antonio. Antonia Pusca wanderte nach Sopron aus, wo er den Beruf des Scherenschleifers ausübte. Dank seines Könnens verdiente er in kurzer Zeit so viel, dass er seiner Familie eine gewisse wirtschaftliche Stabilität garantieren konnte, was die zahlreichen Fotografien, die in prachtvollen ungarischen Fotoateliers entstanden, ausführlich dokumentieren.
Der Beruf des Scherenschleifers wurde von seiner Familie nicht aufgegeben, seine Tochter Giuditta heiratete den jungen Giuseppe Trancon (1866–1953) , der aus Lischiazze/ Liščaca stammte.
Auch Giuseppe, ein nach Sopron ausgewanderter Resianer, wurde ein bekannter Scherenschleifer und fand sein Glück in dieser Region. Von ihm erzählt man, dass er beauftragt war, sich um das Schärfen der Küchenmesser des österreichisch-ungarischen Kaiserhauses zu kümmern. Das Ehepaar Trancon hatte keine Kinder. Dank ihrer gut gehenden Werkstätte häuften sie in kurzer Zeit ein beträchtliches Vermögen an. Schwer getroffen von der Weltwirtschaftskrise 1929 mussten die beiden nach Resia zurückkehren. Trancon kehrte mit einem Koffer voll unnützer Banknoten – entwertet durch die desaströse Inflation, die die Weltwirtschaft getroffen hatte – mit einigen Möbelstücken, Tafelsilber und zahlreichen Fotografien in das Tal zurück. Der Schwager von Giuseppe Trancon, Antonio Pusca, brach wie die anderen in die Region von Sopron auf, wo er das Handwerk des Scherenschleifers lernte. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts übersiedelte er nach Graz, wo er seine Frau kennenlernte und in einer kleinen Werkstätte Arbeit fand. Bald aber verließ er auch Österreich, um sein Glück jenseits des Ozeans zu suchen. Um 1920 ließ er sich in Pittsburgh in Pennsylvania (Vereinigte Staaten von Amerika) nieder, wo er nach kurzer Zeit seine Geschäftstätigkeit begann. In den Vereinigten Staaten spezialisierte er sich, wie es später auch andere Scherenschleifer in Italien taten, auf das Schleifen von Messern für chirurgische Zwecke . Das Arbeiten für Spitäler, das ihm eine sichere Beschäftigung bot, war sehr einträglich.